Weser Report

Dezember: Public School

Seit Anfang November hat für unsere Schüler wieder der Ernst des Lebens begonnen. Die Einführungsphase in der Public School ist vorbei und wenn man nicht besonders viel Geld hat, ist jetzt büffeln angesagt...

Jeder Grade hat 4 Parallelklassen: 4 morgens, 4 abends. In jeder Klasse sind um die 60 Schüler, die von einem Lehrer unterrichtet werden. Neben dem Lehrer gibt es noch einen „Leader“, der von den Schülern gewählt wird und als Respektperson gilt. Er hat sogar die Macht, auffallende Mitschüler wegen Fehlverhalten zum Direktor zu schicken. Wenn bei 60 Leuten also der Lehrer nicht so ganz durchgreifen kann/will, kann das immer noch der Leader übernehmen. Wenn er denn will. Das Problem von einigen unserer Schülern ist folgendes: Der Leader ist genauso faul, wie der Großteil der restlichen Klasse und hat kein Interesse am Lernen. Die wenigen fleißigen Schüler haben keine Chance etwas vom Unterricht mitzunehmen. Also muss man zu Extralessons gehen. Extralessons kosten extra Money und sind mit extra vielen Schülern. Über hundert Schüler, die jeder 25 Cent pro Stunde bezahlen. Auch für die Public School müssen alle Schüler täglich die informelle Schulgebühr an den Lehrer zahlen (25 Cent pro Tag). Außerdem konnten sie sich bis zum 10ten Grade immer die Exam-Ergebnisse erkaufen- Also wenn der faule Sohn nicht zur Schule geht, aber der fleißige Vater seinen Sohn mit Abschluss sehen will, kann er zum Lehrer gehen. Also nicht offiziell. Aber Kambodscha ist nunmal korrupt.

Diese Schummeln geht jetzt aber in der "Oberstufe" nicht mehr, da wird irgendwie strenger kontrolliert, ich weiß es selbst nicht so genau.  Zu den Klassen morgens, den Extralessons und den Klassen abends kommen dann natürlich noch Hausaufgaben und das Lernen für die Exams. Und SCAO. Und Haushalt. Und am besten dann auch noch christlich sein und um 4 Uhr morgens aufstehen, um pünktlich zum Gottesdienst in der Kirche zu sein. Es ist wirklich krass, wie extrem stressig und anstrengend der Alltag von manchen Schülern ist. 

Weil Kambodscha größtenteils von Buddhisten besiedelt ist, müssen die Kinder auch an Weihnachten zur Schule. In meiner NGO haben wir jedoch am 24ten eine Weihnachtsparty gefeiert und den 25ten sogar frei bekommen, was wir genutzt haben, um die Einladung einer Schülerin anzunehmen, zu ihrem Auftritt in die Kirche zu kommen. Es waren sehr viele Kinder da, auch viele bekannte Gesichter aus meiner Schule. Die meisten kommen aber nur an Weihnachten ins Gotteshaus, um ihren Freunden zuzugucken, sind also keine Christen. Es wurden viele Weihnachtslieder in Khmer gesungen und sogar die Weihnachtsgeschichte vorgeführt. Obwohl ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr in die Kirche gehe, hat mich das ganze sehr an Zuhause erinnert. Es war richtig schön, ich glaube nächstes Jahr geh ich in Meyenburg auch wieder hin. An Silvester muss ich leider bis 8pm arbeiten und kann deshalb nicht die Stadt verlassen, um am Strand rein zu feiern... Aber zum Glück ist der 1. Januar frei :P Guten Rutsch wünsche ich!

 


Oktober: Killing Fields

Es fühlt sich inzwischen schon ewig her an, dass wir die Killing Fields besucht haben, aber es ist ein ganz wichtiges Ereignis, von dem ich unbedingt erzählen muss. Die Roten Khmer haben eine Menge Kambodschaner getötet. Die Killing Fields, die man heute besichtigen kann, sind einer dieser Orte, an denen die Massenmorde stattgefunden haben. Es macht natürlich ungeheuer etwas aus, dass man sich direkt am Ort des Schreckens befindet, anstatt nur in Erzählungen darüber zu hören. Genau hier ist das alles passiert, an diesem Ort wurden hunderttausende von Menschen ermordet. Wir bekamen einen Audioguide, sodass jeder für sich von Station zu Station gehen konnte.

Die Gefangenen kamen nachts in Lastern an, dann wurden sie in einer Halle abgeladen, hörten nur das Stöhnen der anderen Gefangenen um sich herum. Niemand wusste, dass dies die letzten Stunden ihres Lebens sein sollten. Teilweise mussten sie dort noch ganze Tage verbringen, falls die Exekution der anderen Gefangenen länger dauerte... Wenn es dann soweit war, wurden sie nicht erschossen, so wie ich es erwartet hatte, sondern erschlagen oder erstochen. Munition wäre zu wertvoll/teuer gewesen. Um die Schreie zu übertönen, wurde „Revolutionsmusik“ abgespielt. Die Nachbarn sollten denken, dass die Roten Khmer ihre Sitzungen abhalten würden. Niemand wusste, dass hinter diesen Zäunen ein Massenmord vonstatten ging. Ich stand vor diesem riesigen Baum, in dem damals die Lautsprecher hingen und mein Audioguide spielte die Musik ab. Ich habe wirklich Gänsehaut bekommen, alles in mir hat sich gesträubt. Die Vorstellung, dass diese Töne das Letzte waren, was die Gefangenen gehört haben, bevor sie von den Qualen ihrer Ermordung endlich erlöst wurden und starben. Und wie sie dann in die Gruben geschubst wurden, um zu vergammeln. Die Vorstellung war so schrecklich überwältigend. Das Feld ist keine gerade Ebene mehr, sondern zu kleinen Hügeln aufgedunsen, weil die toten Körper ihre Gase freisetzen und die Erde aufblähen (oderso). Noch immer werden Knochen und Zähne an die Oberfläche gespült, noch immer wird alte Kleidung gefunden. Die Wärter sammeln alles auf und ein bisschen Kleidung und eine ganze Menge an Knochen und Schädeln sind im Gedenkstupa ausgestellt.

Das Brutalste, was die Roten Khmer wohl vollbracht haben, ist der Baum, an dem sie die Köpfe der Kinder zerschmettert haben. Und dieser Baum wurde von einem Mann gefunden, der keine Ahnung hatte, was hier abging: Er fand diesen blutigen Baum und realisierte erst nach und nach, dass es Gehirnreste waren, die daran klebten. Und dann verstand er langsam, was hier geschehen ist. Was dieser Mann in diesem Moment empfunden hat, muss ein unvorstellbares Grauen sein, ein unvorstellbarer Schmerz und eine unvorstellbare Angst und Wut.

Die Audioguide-Tour hat nicht nur gezeigt, was vor Ort geschehen ist, sondern auch Geschichten von Überlebenden erzählt, die ihre gesamte Familie verloren haben. Von ihren Ängsten, Trauma, ihrem Hass und ihrer Rachsucht. Und auch von Reue. Man konnte das Geständnis anhören, das der Obermann von Toul Sleng abgelegt hat. Aber nicht alle haben gestanden. Wie wir das auch aus Deutschlands Vergangenheit kennen: Die meisten leugnen, etwas damit zu tun gehabt zu haben, oder behaupten, sie wären zu ihren Taten gezwungen worden. Verurteilt worden sind die wenigsten. Es gibt noch immer Menschen, die die Roten Khmer unterstützt haben und die heute noch in Führungspositionen sitzen... Ich versteh nicht, warum ein derartiger Völkermord im Geschichtsunterricht ignoriert wird.


Bildunterschrift: Ein Bruchteil aller Schädel der Ermordeten sind im Gedenkstupa ausgestellt.


September: Regenzeit

Hallöchen zusammen, mein Name ist Inka Becker. Ich lebe seit Mitte August in Kambodscha in einem Vorort der Hauptstadt Phnom Penh. Hier arbeite ich für eine Nichtregierungsorganisation als Englischlehrer und unterrichte Kinder im Alter von 5 Jahren, die gerade erst das Alphabet lernen, bis hin zu 25-Jährigen, die schon Architektur studieren. Täglich erlebe ich etwas Neues, das  mich mit Glück, Freude, Erstaunen oder Entsetzen erfüllt. Natürlich kann ich hier nicht alles erzählen, aber Platz für eine kleine Geschichte ist dann wohl doch. 


Momentan ist Regenzeit in Kambodscha. Regenzeit bedeutet, dass es etwa einmal am Tag für mindesten eine Stunde regnet. Es gibt aber immer noch Tage, an denen trotzdem kein Tropfen vom Himmel fällt und die Straßen noch staubiger werden, als sie ohnehin schon sind. Durch die Trockenheit ist die gesamte Luft von Staub und Dreck erfüllt. (Sowieso ist alles von einer Dreckschicht bedeckt und jedes Mal wenn ich mir die Hände wasche - und das tue ich aus gutem Grund oft - färbt sich das Wasser braun). Gegen den Schmutz in der Luft wehren sich die Menschen mit einem Mundschutz, den ich immer noch nicht habe, mir jedoch unbedingt mal zulegen sollte. Aber eigentlich soll es heute um den Regen gehen: 

Ich sitze in unserem Wohnzimmer, das gleichzeitig Esszimmer, Garage und Abstellraum in einem ist. In 30 Minuten fängt meine Khmerlesson an, die ich seit einer Woche nehme, um die kambodschanische Sprache zu erlernen. Unsere Lehrerin ist hart und ich muss viel lernen, doch Khmer zu lernen fühlt sich jetzt ganz anders an, als damals das Französisch-lernen. Khmer WILL ich lernen, um mich hier vernünftig integrieren zu können und das ist vielleicht der größte Ansporn, den jemand haben kann, um eine Sprache zu lernen. Schlagartig und unerwartet fängt es an zu regnen. Zunächst freue ich mich, denn ich weiß, dass die Luft abkühlen wird und ich heute Abend beim Schlafen vielleicht etwas weniger schwitzen werde.  Doch dieser Regen ist anders. Nachdem es einige Tage lang nicht geregnet hat (was für die Regenzeit schon ziemlich ungewöhnlich ist), kommt das Wasser jetzt sintflutartig vom Himmel. Ich warte in Ruhe ab und lerne weiter Vokabeln auswendig während ich hoffe, dass sich das Unwetter zügig legt, damit ich rechtzeitig zum Unterricht kann. Eine Viertelstunde nach Unterrichtsanfang sieht die Lage aber immer noch genauso aus, wie in der ersten Sekunde. Ich gebe auf und suche meine Regensachen zusammen, ich kann es mir nicht leisten, eine Khmerlesson zu verpassen. Niemand ist auf den Straßen, alle sitzen unter ihren Terrassen und beobachten den Regen. Alle Sonnenschirme mitsamt den Staßenständen, auf denen bei gutem Wetter alles Mögliche (von frittierten Bananen bis hin zu Shampoo)  angeboten wird: Alles ist sicher unter (Wellblech-)Dach und Fach gebracht worden. Einsam kämpfe ich mich auf meinem Fahrrad durch eine dezimeterhohe “Pfütze” nach der anderen. Mir macht es Spaß, das Wasser ist warm und fühlt sich irgendwie gut an. Komplett durchnässt komme ich 20 Minuten verspätet beim Klassenraum an, viel verpasst habe ich noch nicht und man ist mir natürlich auch nicht böse. Bereut habe ich absolut nichts. 


Als ich einige Zeilen weiter oben “sintflutartig” geschrieben habe, war das genau so gemeint: Im Nachhinein habe ich erfahren, dass die Straßen der Hauptstadt komplett geflutet waren. Das Meeting meiner NGO, dass bei uns im VolunteerHouse stattfindet sollte, wurde abgesagt, weil die wichtigen Leute aus Phnom Penh oder vom Dorf nicht hierher fahren konnten, es wäre zu gefährlich gewesen. Wegen dem Regen. Ich war schwer beeindruckt.


Bildunterschrift: Phnom Penhs Straßen, fotografiert von Sophorn Ban. Ich habe sie auf unserem Einführungsseminar in Phnom Penh kennen gelernt, sie arbeitet dort als Deutschlehrerin fürs Goethe Institut.